Ein Gespräch über Vipassana-Meditation

Es ist mir eine Ehre, heute Maryia als Gast auf dem Blog zu haben. Sie ist nicht nur eine passionierte Yogini, sondern auch erfahrene Vipassana-Praktizierende. Nachdem ich von dieser Form der Meditation schon einiges gehört hatte, freute ich mich besonders, mit ihr über dieses Thema zu sprechen.

Liebe Maryia, starten wir doch mal mit den Basics. Was bedeutet denn eigentlich Vipassana, was verbirgt sich hinter diesem Begriff?

Der Begriff ist in Pali, was so etwas wie eine Tochtersprache von Sanskrit ist. Historisch gesehen ist sie etwas jünger. Pali war tatsächlich sogar eine gesprochene Sprache zu Zeiten Buddhas. Somit ist es die Sprache, die Buddha gesprochen hat. Damit meine ich den letzten historischen Buddha, also den Prinzen Siddhartha Gautama, der später den Titel Buddha erhalten hat.

In Pali bedeutet „Vi“ klar, und „Passana“ bedeutet sehen. Zusammengesetzt bedeutet dieser Begriff also „klar sehen“. Man übersetzt man es auch als „Einsichtsmeditation“.

Also ist in dem Namen auch schon ein bisschen das Ziel der Meditation verborgen?

Ja, der Name ist im Grunde schon so etwas wie eine Beschreibung.

Wir sollen also Einsicht erhalten. Einsicht worin genau?

Es geht letztlich darum, als Erstes sich selbst klar zu sehen, und zwar so, wie man wirklich ist und nicht, wie man sich gern sehen würde. Manchmal hält man sich schon für ideal, aber merkt dann, dass man doch nicht immer in seiner Mitte ist.

Im Alltag sagen wir dann gerne „ja, aber das ist nur wegen äußerer Einflüsse“. Beispielsweise hat man nur Angst, weil ein Hund gebellt hat; oder man ist nur wütend, weil jemand anders schuld ist.

Bei der Meditation erkennt man aber, dass diese sogenannten Hindernisse im Inneren sind – und man lernt auch, sie zu überwinden.

Wenn dann später der Hund bellt, hat man weniger Angst, und noch später vielleicht gar nicht.

Das ist aber keine Verhaltenstherapie, sondern ein natürliches Ergebnis von innerer Einsicht. Im Inneren verändert sich also etwas durch die Achtsamkeit, die bei der Meditation praktiziert wird.

Und die Einsicht geht über einen selbst hinaus. Man erlangt auch ein tieferes Verständnis für die Natur aller Dinge.

Meditation als Weg zu mehr Einsicht und tieferes Verständnis

Diese Einsicht klingt ja sehr erstrebenswert. Wie versucht die Meditation, diese zu erreichen?

Vipassana ist ein Oberbegriff für mehrere Techniken. Wir sprechen also nicht von „dem“ Vipassana – unter dem Begriff kann man verschiedene Techniken, Traditionen und Linien finden.

Die Grundlage ist aber die Lehre Buddhas, die auf der Achtsamkeit basiert. Innenschau erlangt man durch Achtsamkeit. Achtsamkeit ist hierbei auch eine Übersetzung ins Deutsche – dieses Wort wird ja heutzutage inflationär gebraucht – aber was ich damit meine, im Sinne der buddhistischen Lehre, ist der ursprüngliche Pali-Begriff „Sati“. Dieser heißt so viel wie „sich erinnern“. Das bedeutet, sich bewusst zu sein, was gerade geschieht.

In einer Lehrrede Buddhas, in dem Satipatthana Sutta, werden vier Bereiche genannt, auf die man dieses „Erinnern“ entfalten kann:

Der Körper – welche Körperposition habe ich gerade?

Gefühle – angenehm, unangenehm, neutral – insgesamt.

Geist – innere Aktivität, zum Beispiel Denken, Planen, Analysieren.

Geistesobjekte, zum Beispiel Zustände von Nicht-Mögen oder Widerstand, Angst, Ärger.

Die eben erwähnten inneren Hindernisse gehören zu der Gruppe der Geistesobjekte, die etwas komplexer beschrieben werden können als nur angenehm oder nicht angenehm. Darauf kann man Achtsamkeit entfalten.

Achtsamkeit entwickeln – auf den Atem und mehr

Was heißt das genau?

Wenn ich sitze, weiß ich – ich erinnere mich zurück – ich sitze. Oder wenn ich ein unangenehmes Gefühl im Bein habe, weiß ich – dies ist ein unangenehmes Gefühl. Oder ich überlege, wie das Wetter wird – das ist dann erst einmal Denken, aber dann macht man sich vielleicht Sorgen, dass es regnen könnte und man krank wird. Übergang von Denken zu Sorge ist schon ein Übergang zum Geistesobjekt.

Dann gibt es noch eine zweite sehr bekannte Lehrrede, das Anapanasati Sutta. Anapana ist praktisch Einatmen und Ausatmen, also Achtsamkeit entwickeln in Bezug auf den Atem. Deswegen spielt die Beobachtung des Atems in den meisten Vipassana-Strömungen eine Rolle, denn den Atem haben wir immer „dabei“. Den Körper auch, aber der Atem hat eine gewisse rhythmische Veränderung. Bei einem Gefühl im Bein könnten wir uns in Spekulationen verlieren, woher es kommt und dadurch nicht mehr gegenwärtig sein. Anapanasati bedeutet also Achtsamkeit auf den Atem trainieren.

Kannst du noch ein bisschen mehr zu den unterschiedlichen Varianten sagen?

Es gibt einige Lehrer aus dem Osten und dem Westen gleichermaßen, teils ordinierte Mönche, teils Laien, also viele Lehrer, die ihre Praxis Vipassana nennen und andere, die vielleicht gar nicht so viel mit den Traditionen des Theravada Buddhismus zu tun haben. Das ist die älteste buddhistische Strömung, auch südländischer Buddhismus genannt.

Heutzutage finden wir das in Thailand und Burma beispielsweise, während in China und Japan Mahayana präsent ist. Das ist eine andere Richtung, basiert aber auch auf den Lehren des Buddhas. Und dann gibt es noch den tibetischen Buddhismus, der aus Mahayana entstanden und mit der tibetischen Tradition verbunden ist.

Unabhängig davon, wo man gelernt hat oder welchen Hintergrund man hat, kann es sein, dass jemand seine Praxis Vipassana nennt – das ist kein geschützter Begriff. Daher ist es immer gut zu schauen, was sich dahinter verbirgt.

Es gibt Techniken, die keine genaue Anweisung haben, wie man praktizieren soll. Das ist dann recht offen, so wie „beobachte deinen Atem und alles, was du wahrnehmen kannst“ oder „gehe langsam und beobachte deine Schritte“ und es gibt Techniken, die relativ genau alles definieren.

Ich persönlich praktiziere seit 2006 in der Tradition des Höchstehrwürdigen Phra Ajahn Tong Sirimangalo. Er war ein sehr hochangesehener Mönch in Thailand, der 2019 diese Welt verlassen hat. Er selbst hat in den jungen Jahren in Burma bei einem bekannten burmesischen Meister gelernt.

Dieser hat diese ursprüngliche Idee nochmal genauer definiert und zu seiner Technik entwickelt und Ajahn Tong hat dies noch weiter modifiziert. Seine Technik ist recht genau definiert. Dabei hat man drei Übungen, die immer nacheinander ausgeführt werden und man verwendet auch das Benennen, was nicht bei jeder Vipassana-Übung der Fall ist. Das ist in diesem Fall ein Tool, um Achtsamkeit zu entwickeln.

In sich hineinhören und benennen, was man spürt

Ist so etwas normalerweise angeleitet oder eher stille Meditation?

Diese drei Übungen werden zu Beginn einem genau erklärt und dann übt man für sich und je nachdem in welchem Rahmen das Ganze stattfindet – nur ein Abend oder ein ganzer Kurs – dann hat man auch regelmäßige Gespräche mit dem Lehrer, der vor Ort anwesend ist.

Diese Praxis hat den Vorteil, dass man immer begleitet wird und immer Rücksprache halten kann und einen Abgleich hat, und zwar mit einer präsenten Person.

Wie bist du zu Vipassana gekommen?

Ein sehr guter Freund von mir hat so einen Kurs gemacht und mir davon erzählt. Dann hat ein anderer Freund gesagt „das ist interessant, das mache ich auch“ und dann dachte ich, ich probiere es auch aus.

Und dann hast du gemerkt, dass es etwas für dich ist?

Ja, inzwischen sind es 17 Jahre, und ich muss sagen, ich habe das sehr kontinuierlich gemacht über die Jahre. Zumindest als ich noch kinderlos war, habe ich drei Intensivkurse pro Jahr gemacht, und auch jetzt versuche ich, dranzubleiben. Das Schöne ist ja, dass man die Technik auch im Alltag praktizieren kann, nicht nur auf Retreats – man kann mit den Lehrern auch telefonieren. Das ist für viele Lebenslagen eine Erleichterung, zum Beispiel, wenn man ein kleines Kind hat (lacht).

Davor hatte ich mir Meditation eigentlich anders vorgestellt. Ich dachte, es wäre nur die geistige Ruhe, alles ist schön und friedlich, und das ist natürlich auch was Besonderes. Ich habe aber gemerkt, dass Vipassana anders ist. Man sieht Sachen in sich, die man vielleicht auch nicht sehen möchte – also nicht alles schön und friedlich – aber ich habe die Wirkung gespürt. Die Situationen, die mich sonst im Alltag sehr gefordert haben, sind ganz natürlich besser geworden, ohne dass ich an irgendwelchen Schrauben drehen musste.

Man kommt nach einem Retreat zurück und Chefs, Partner, Vermieter sind die gleichen, alles ist gleichgeblieben – aber mir geht es damit besser, ich komme besser damit klar. Das war für mich der Anreiz, dranzubleiben und weitere Kurse zu machen.

Man ist dann bei sich selbst und möchte einfach besser werden, und zwar nicht nur oberflächlich, sondern von Grund auf. Das ist schon harte Arbeit. Es ist schon verlockend zu sagen „einmal mit dem Staubwedel drüber reicht“, aber einmal „Waschen bei 90° mit Waschmittel“ macht natürlich viel sauberer (lacht).

Ein Retreat ist dann wahrscheinlich so ein „Vollwaschgang“. Kannst du mal davon erzählen, wie so etwas abläuft?

Für den „Vollwaschgang“ ist in der Tat ein Retreat zu empfehlen, auch wenn man Vipassana auch an einem Abend ausprobieren kann.

In der Tradition des Ehrwürdigen Ajahn Tong ist es so, dass der erste Grundkurs über 15 Tage geht und die nachfolgenden über 10 Tage, in einem Meditationszentrum, denn dort ist die Begleitung vor Ort gegeben und der ganze Ablauf ist darauf ausgerichtet, dass man sich auf die Sache konzentrieren kann.

Es ist im Prinzip Urlaub, aber ganz anders. Am Anfang bekommt man alles genau erklärt, dann fängt man an mit den Übungen für sich selbst, hat immer wieder Gespräche. Es gibt 2 Mahlzeiten am Tag, es gibt immer wieder Pausen zwischen den Meditationsrunden. Viel mehr macht man nicht, man nutzt kein Handy, liest keine Bücher, man lässt sich voll darauf ein.

Retreat – eine Zeit nur für sich selbst

Also sollte man es auch nicht so planen, dass man den Ort währenddessen erkundet?

Nein, das würde ich davor oder danach machen. Für den Effekt ist es wirklich wichtig, sich voll darauf einzulassen. Das ist natürlich ungewohnt, gerade beim 1. Mal, daher kann es gut sein, vorher eine Kurzeinführung mitzumachen.

Inwieweit hebt sich die Art die du praktizierst, von den Meditationen ab, die die LeserInnen vielleicht schon ausprobiert haben?

Im Yoga verstehen wir darunter eher Konzentration und Fokus, in manchen Traditionen kann Meditation auch dynamisch, mit Natur oder Klang verbunden sein; es gibt so eine große Bandbreite dessen, was wir als Meditation bezeichnen.

Ich würde sagen, wenn es dich anspricht, mit Achtsamkeit zu meditieren, dann folge der Intuition und probiere es aus, aber komm unvoreingenommen. Vergiss alles, was du je gehört oder gemacht hast, denn jede Strömung ist etwas anderes. Lasse dich voll darauf ein für den gewählten Zeitraum und dann wirst du sehen, ob es was für dich ist.

Bereit für etwas Einkehr?

Wenn man jetzt Lust bekommen hat, das auszuprobieren, was wäre dein Tipp für jemanden, der vorher noch nie mit Vipassana in Berührung gekommen ist, aber durch deine Worte inspiriert wurde?

Das würde mich natürlich sehr freuen! Wir sind in Deutschland sehr begünstigt. Das Hauptkloster der Tradition ist in Thailand, aber wir müssen nicht dorthin fliegen, denn wir haben in Deutschland zwei Meditationszentren in dieser Tradition.

Am 26. November wird die Leiterin eines dieser Zentren bei uns im Yoga Vidya Center Frankfurt eine Einführung geben. Sie ist mit unserem Center schon lange verbunden und war 2007 das erste Mal bei uns. Das ist ein Abend, an dem man von ihr eine Einführung bekommt, ihr Fragen stellen und die ersten eigenen Erfahrungen machen kann. Die Veranstaltung ist auf Spendenbasis, so wie das in allen Vipassanatraditionen üblich ist.

Am 12. Dezember wird es ebenfalls einen Vipassana-Abend in unserem Yogacenter geben, mit Ehrwürdigem Phra Ajahn Ofer Adi, buddhistischen Mönsch und Meditationslehrer, der seit 1989 Vipassana praktiziert.

Wem würdest du empfehlen, Vipassana auszuprobieren?

Jedem! (lacht) Ich finde, jeder kann davon profitieren, man sollte es aber nicht mit der Vorstellung machen, dass alles nur schön ist. Ich würde es jedem empfehlen, der für sich selbst Einsicht gewinnen möchte.

Gibt es Leute, denen du es nicht empfehlen würdest oder sogar Kontraindikationen?

Das nicht, aber im Falle von psychischen Problemen oder auch einer Sucht, wäre es wichtig, das vorher mit dem Lehrer abzuklären und ganz offen zu sein. Wenn es wirklich nicht passend wäre, würde man eine entsprechende Antwort bekommen.

Gibt es eine Richtlinie, wie oft man praktizieren sollte?

Nicht offiziell, aber wie jede andere Praxis auch, wirkt es am besten, wenn es Teil des Alltags ist. Wenn man es schafft, es im Idealfall täglich zu machen – vielleicht auch mal nur 10 Minuten – beginnt man, die Benefits zu spüren. Aber einmal im Monat ist immer noch besser als gar nichts. Nutze einfach die Freiräume, die dir zur Verfügung stehen.

Vielen Dank, liebe Maryia!

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